Istanbulspor - Fenerbahce 0:1, Besiktas - Samsunspor 1:4 abg.

Nicht unbedingt erstligareif (und inzwischen auch nicht mehr Istanbulspors Spielstätte)

Sesamring und Spielabbruch: Fußball in der Türkei (Text: Christoph Leuchtenberg)

Die Winterpause ist doch eine garstige Zeit. Sicher: So gänzlich fußballlos geht auch sie nicht vonstatten. Doch sind nicht Testspiele und Hallenturniere eine Art alkoholfreies Bier des Sports? Auf gewisse Weise ein fußballerisches Placebo?

Der wahre Fußball wird um Punkte gespielt, und so geht für den wahren Liebhaber kein Weg daran vorbei, im winterlichen und bundesligafreien Deutschland nach Alternativen Ausschau zu halten. Eine solche findet sich in der Türkei, wo die heimische Süper Lig bereits am vergangenen Wochenende in die Rückrunde startete. bundesliga.de hat die Reise an den Bosporus gewagt.

'Back to the roots'

Die Zielvorgabe war klar: Samstags das 'kleine' Istanbuler Derby zwischen Istanbulspor und Fenerbahce, einen Tag später das Heimspiel von Besiktas gegen Samsunspor, beides nicht wie gewohnt auf gemütlichen Presseplätzen, sondern im Fanblock, wo sich der gemeine türkische Fußball-Anhänger tummelt. 'Back to the roots', wenn man so will.

Wie weit es zu den Wurzeln zurückgehen sollte, deutete sich unmittelbar nach der Landung an: Anstatt mit einem Hauch südlichen Vor-Frühlings empfing uns das nächtliche Istanbul mit strömendem Regen, die Fahrt ins herbeigesehnte Hotel dauerte knapp zwei Stunden, weil die Autobahn in einer Senke knapp einen Meter hoch überspült war. Aus der Ruhe brachte das vor Ort freilich niemanden...

Unruhig wurden wir hingegen, als sich am nächsten Morgen der nächtliche Guss in fiesen Schneeregen kombiniert mit einem stattlichen Sturm samt Stromausfällen gewandelt hatte. Die örtlichen Medien prophezeiten für die kommenden Tage unglaubliche 70 Zentimeter Neuschnee. Nach kurzem Kurzschließen (im wahrsten Sinne des Wortes) waren wir uns einig: In Sachen Fußball sieht es zappenduster (siehe oben) aus.

Samstag, 24. Januar: Istanbulspor-Fenerbahce

Am Morgen des Spieltags lagen schließlich für Istanbuler Verhältnisse völlig absurde 36 Zentimeter der weißen 'Pracht' auf den Straßen. Zuviel, um nach westlichen Maßstäben in irgendeiner Weise an Fußball zu denken. Genug, um in der Neun-Millionen-Metropole das öffentliche Leben fast zum Erliegen zu bringen. Zu wenig, um den türkischen Fußballverband dazu zu bewegen, den ganzen Spuk per se zu vertagen. So blieb es unglaublicherweise bis zuletzt unklar, ob die Partie zwischen dem kleinen Istanbulspor und dem großen Fenerbahce stattfinden würde.

Der Versuch der spontanen Klärung gestaltete sich recht schwierig. Um 11 Uhr der vergebliche Anruf bei Istanbulspor - niemand zu erreichen. Wenig später die Anfrage bei Fenerbahce: Nein, abgesagt ist noch nicht. Große Schlüsse dürfe man daraus aber nicht ziehen. 11.30 Uhr: Anruf bei den Kollegen der größten türkischen Sportgazette mit dem allzu treffenden Namen 'Fanatik': Einen Reporter hätten sie dorthin geschickt, hieß es, doch dass wirklich gespielt würde, hieße dies noch lange nicht. Kurzum: Man habe keinen blassen Schimmer.

Somit blieb uns nichts anderes übrig, als von unserem Hotel im schönen Altstadtbezirk 'Sultanachmet' den langen Weg in die Trabantenvorstadt 'Güngören', der Heimat Istanbulspors anzutreten. Zusammen mit Osman, unserem Dolmetscher und Stadtführer, stapften wir durch Tiefschnee und über Glatteis gen Busbahnhof, um im Gewühle das geeignete Fahrzeug zu finden. Als der Busfahrer unser Fahrtziel vernahm, schaute er uns fragend an: 'Fenerbahce?' Nach kurzem Überlegen reckten wir die Fäuste in die Luft und riefen: 'Fenerbahce!' Augenscheinlich war es die richtige Antwort: Der Chauffeur sprang auf, strahlte über beide bärtigen Backen und klopfte uns auf die Schultern - Kommunikation kann manchmal so einfach sein.

Ticket für Besiktas - SamsunsporDas Kreuz mit den großen Drei

Denn merke: Ein bisschen Fußballfan ist dortzulande wie ein bisschen schwanger. Also durchweg unmöglich. Entweder man liebt Fußball und lebt ihn, oder man ignoriert ihn. Wenn man ihn liebt, liebt man einen der drei großen Klubs (Galatasaray, Fenerbahce, Besiktas). Und nur einen. So erging es uns am Tag zuvor, als wir in einem Cafe einen Tee bestellten und gleichzeitig fragen wollten, ob die Besiktas-Partie abgesagt werden würde. 'No Besiktas! Galatasaray!', bekamen wir vom Kellner grimmig als Antwort. Als wir ihn Minuten später an unseren Tee erinnern, schüttelt er den Kopf: 'No Besiktas!' Wir blieben durstig.

'Die Hauptrivalität existiert zwischen Galatasaray und Fenerbahce', klärte Osman (bekennender Besiktas-Fan) auf, 'doch im Endeffekt sind sich die Anhänger aller drei nicht grün.'

Doch zurück nach Güngören. Oder besser: Auf den Weg dahin. Der Busfahrer (wie erwähnt ein Freund Fenerbahces) war ein typischer Vertreter seines Faches: Im aktuellen Schnee-und Verkehrschaos der Stadt mit unfassbarer Gemütsruhe ausgestattet, lenkte er sein Gefährt auf wundersame Weise unfallfrei Richtung Ziel. Und wo deutsche Busse eine Hupe besitzen, scheinen die türkischen nur einen Knopf zu besitzen, um die Hupe kurzzeitig zu unterbrechen.

Touristen-Premiere in Güngören

Der Anblick des Stadions, von Wohn-Hochhäusern umgeben (wir seien wohl die ersten Touristen, die den Weg hierhin finden, meinte Osman), war - nun ja: befremdend. Sagen wir es so: Das Millerntor in St. Pauli ist im direkten Vergleich zum 'Güngören Bayrampasa Stadyumu' eine Hightech-Arena. Mittlerweile war es eine Stunde vor dem geplanten Anpfiff - eine Entscheidung, ob gespielt würde, stand immer noch aus. 'Der Schiedsrichter überlegt noch', verriet uns ein Polizist, der mit einigen Amtskollegen inmitten eines tapferen Häufleins Fenerbahce-Fans ausharrte.

Mit ein wenig Überredungskunst gelangten wir auf den Rasen. Oder zumindest dorthin, wo wir den Rasen vermuteten. Denn der war auf voller Fläche immer noch von den 36 Zentimetern Schnee bedeckt. Was gibt es denn hier noch zu überlegen?, fragten wir uns. Und gleiches schien auch Fenerbahces deutschem Coach Christoph Daum durch den Kopf gegangen zu sein, der mit seinem Präsidenten Aziz Yildirim an uns vorbeischlurfte.

Sei's drum: Minuten später erfolgte die Absage. Das wunderliche: Fast zeitgleich brach ein seltsamer Aktionismus aus. Menschenscharen stürmten mit Schaufeln bewaffnet das Spielfeld und fingen unkoordiniert an zu schippen. Wir nahmen auf der Ersatzbank Platz, verfolgten das seltsame Treiben, bis eine kapitale Dachlawine vor unseren Füßen niederging. Neben einem türkischen Kollegen landete eine Eisenstange. Er fand es spaßig, wir weniger und trotteten von dannen. Letzter offzieller Stand:

Am nächsten Tag um dieselbe Zeit ein neuer Versuch.

Sonntag, 25. Januar: Istanbulspor - Fenerbahce II

Strahlender Sonnenschein über dem Bosporus! Und daher guten Mutes erneut den Bus Richtung Güngören bestiegen, 'Fenerbahce!' gerufen und die Faust gereckt. Der Busfahrer drohte mit seiner zurück und stieß wilde Flüche aus. Falsche Mannschaft diesmal...

Laut Pele das am schönsten gelegene Stadion der WeltObwohl kaum für möglich gehalten, war das Spielfeld gerichtet. Aber auch nur dieses. Die Zuschauerränge hingegen bestanden aus Schnee und purem Eis, so dass wir uns auf dem Weg hinauf in den Fenerbahce-Block Steigeisen wünschten, während die Fans um uns herum liebevoll aus dem liegengebliebenen Weiß Wurfgeschosse formten. Die Partie war höchst unspektakukär: Durch ein frühes Tor von Luciano gewann Fenerbahce mit 1:0. Somit blieb viel Zeit für das Beobachten der Eigenheiten im türkischen Fußball.

1. Türkische Teams pflegen beim Aufwärmen ein bemerkenswertes Ritual. Das Publikum skandiert einen Namen, der betreffende Spieler läuft in die Fankurve/den Fanblock, simuliert drei Peitschenhiebe, während die Fans bei jedem einzelnen 'Hoy!' skandieren. Beeindruckend.
2. Es gibt wahrscheinlich nichts, was man während einer Partie auf den Rängen nicht käuflich erwerben könnte. Nacheinander bahnten sich Verkäufer mit Sesamringen, Tee, Schokoriegeln, Sonnenblumenkernen, Mützen, Schals, Wasser, Saft, Nüssen und Joghurt den Weg an uns vorbei. Verhungern muss hier niemand.
3. Fußball ist Männersache. Ganze zwei Frauen tauchten in unserem Blickfeld auf. Die männlichen Zuschauer waren derweil mit Herzblut bei der Sache. Puls unter 180? Hier nicht...

Sonntag, 25. Januar: Besiktas - Samsunspor

So unspektakulär die erste Partie des Tages war, so unvergesslich verlief die zweite. Von Güngören machten wir uns auf den Weg nach Osten. Das Inönü-Stadion, die Heimstätte von Besiktas, ist wohl eine der am schönsten gelegenen Arenen Europas. Auf einer Anhöhe thront es inmitten von Luxus-Hotels majestätisch über dem Bosporus - vor lauter Staunen landeten wir einmal mehr Nase voran im Schneematsch.

Ein netter Polizist wies uns den Weg Richtung Fanblock und ermahnte uns, tunlichst auf Geldbörse und Mobiltelefon aufzupassen. Beides fest umklammert tasteten wir uns durch das Gedränge – um danach festzustellen, dass ein Brillenetui aus der Hosentasche verschwunden war. Ein bisschen Schwund ist halt immer. 'Ich kann Dir zeigen, wo Du es morgen zurückkaufen kannst', meint eOsman.

Nach dem bekannten Ritual des Aufwärmens (Hoy! Hoy! Hoy!) begann ein munteres Spielchen zwischen dem ungeschlagenen Tabellenführer und den Gästen vom Schwarzen Meer. 1:1 hieß es nach 20 Minuten. So weit, so gut. Doch was wir hernach mit offenem Mund zur Kenntnis nahm, lässt sich zweifelsfrei zu den größten Tretereien der Fußballgeschichte zählen.

Jagdszenen im Inönü

Der 'Spielfilm': Zunächst packt Zago, Besiktas' brasilianischer Abwehrhüne, binnen zwei Minuten gleich zweimal die Axt aus. Gelb-Rot die logische Folge, die Menge bebt. Fünf Minuten vor der Pause wird Istanbuls Ibrahim gehässig umgeschubst, will dies natürlich nicht auf sich sitzen lassen und tritt den nächsten verfügbaren Gegenspieler aus den Schuhen. Rote Karte, der Block tobt, Coach Lucescu wird auf die Tribüne verbannt. Kurz darauf macht Ahmet dem Schiedsrichter klar, was er von ihm hält. Rot Nummer drei für Besiktas, die Masse ist außer sich. Polzisten, Betreuer, Kameraleute und Ordner stürmer auf das Feld. Unparteiische und Spieler flüchten in die Katakomben, wo sich letztere laut Augenzeugen ein kräftiges Scharmützel liefern.

Schnee auf dem InönüObwohl wir arge Zweifel dran hegen, wird nach 20 Minuten Pause zur zweiten Halbzeit gepfiffen. Samsunspor ist mit drei Mann Überzahl klar im Vorteil und zieht schnell auf 3:1 weg. Zuviel für die stolze Besiktas-Seele: Auf den Rängen bricht zeitweise Chaos aus, aufgebrachte Fans klettern in den Oberrang und versuchen VIP- und Presse-Plätze zu stürmen. Andere lassen auf Linienrichter und Gästespieler einen Platzregen von Schneebällen herabprasseln. Weil keine Chance mehr besteht, die Partie zu drehen, besinnen sich die Kicker des Hausherren nun darauf, den Technischen K.o. herbeizuführen, sprich: Besiktas will den Spielabbruch.

Während die Menge 'Mehr! Mehr! Mehr!' fordert, bietet sich auf dem Feld ein grotestkes Bild. Samsuns Spieler bemühen sich, den Ball sofort weiterzuspielen und sich vor den herangrätschenden Hausherren zu retten. Teils vergebens: Daniel Pancu springt seinen Gegner von hinten derart an, dass er nur durch einen beherzten Satz das Karriereende vermeiden kann: Rot Nummer vier für Pancu, der danach zu den Fans läuft und sich feiern lässt. Den Schlusspunkt setzt Ilhan Mansiz, der unter dem Gejohle der Besiktas-Anhänger so lange umherhüpft, bis er einen Gegner außer Gefecht setzt. Gelb-Rot für ihn, der Schiedsrichter pfeift hektisch ab und gibt unter Polizeischutz Fersengeld, Samsunspor hinterher.

Die Stille nach dem Sturm

Vorbei der Spuk, wir sind sprachlos. Stunden später stehen wir auf der Galatabrücke, blicken auf den sternenklaren Himmel über den Bosporus und die fernen Lichter auf asiatischer Seite. Es ist gespenstisch still, nichts mehr zu spüren vom Lärm der vergangenen Tage, von der Hektik der Metropole. Zeit, sich an einem Fazit zu versuchen. 'Das meiste, was ich über die Moral des Menschen weiß, verdanke ich dem Fußball', sagte einst Albert Camus. Oder anders: Fußball ist Leben – in allen seinen Variationen und Unzulänglichkeiten. Der Bosporus bildet da keine Ausnahme, vielleicht sogar das endgültige Konzentrat von allem.

Text: Christoph Leuchtenberg